„Ich habe meinen Bruder durch Masern verloren“

Gary Finnegan

Gary Finnegan

July 6th, 2020

Gary Finnegan
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‘Julians Bruder Max war zu jung, um geimpft zu werden, als er Masern bekam. Viele Jahre später starb er an den Komplikationen. Nun hat Julian einen Film gedreht, um die möglichen Auswirkungen der Krankheit aufzuzeigen.’

Übersetzt von Rüdiger Schönbohm. Lesen Sie hier die englische Version.

„Das Schlimmste war, ihn im Laufe der Jahre so verfallen zu sehen", sagt Julian. „Gegen Ende hatte er Schmerzen. Es war schrecklich für uns als Familie, seinen Niedergang mitzuerleben.“

Max und Julian genossen ihre frühe Kindheit wie zwei echte Brüder. Bei nur zwei Jahren Altersabstand machten sie alles zusammen – Eishockey, Familienurlaub, gelegentliche Schwertkämpfe.

Für die Eltern Rüdiger und Anke war das Leben damals prall gefüllt. Mit Freude beobachteten sie, wie sich ihre Söhne entwickelten und gemeinsam aufwuchsen, sie jonglierten erfolgreich ein Leben zwischen Arbeit und zu Hause, schmiedeten Pläne für die Zukunft. Auf ihrem Weg nahmen auch diese Kinder Husten, Erkältungen und andere Kinderkrankheiten mit. Wie alle sorgten sich die Eltern dann, aber die Jungs erholten sich immer wieder schnell, und das Leben ging weiter seinen normalen Gang.

Als Max sechs Monate alt war, infizierte er sich mit Masern – er war noch zu jung, um den Impfstoff zu bekommen, der normalerweise um den ersten Geburtstag eines Kindes herum angeboten wird. Sein Vater erinnert sich, wie Max in der Folge mehrere Tage lang hohes Fieber ertrug und das Virus seine Lungen in Mitleidenschaft zog, so dass er nur noch schwer atmen konnte. Doch nach einigen Wochen schien es auch hier, als habe sich Baby Max wieder vollständig erholt.

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9 Jahre später: Max begann plötzlich, Gleichgewichtsprobleme zu haben, seine schulischen Leistungen sanken, und er erlitt wiederholt Anfälle. „Wir dachten, es könnte eine Epilepsie sein", erinnert sich Julian, der damals 12 Jahre alt war. „Andere Kinder machten sich über ihn lustig, weil er schon bald einen Helm tragen musste, der ihn vor den Stürzen schützte… Einmal habe ich beim Hockeytraining sogar absichtlich einen anderen Spieler attackiert, weil er hässliche Dinge über Max sagte und ihn auslachte.“

Die Jungs hatten schon immer gern das örtliche Schwimmbad besucht, aber auch das wurde nun zu einer Herausforderung – körperlich und sozial. Max hatte es satt, dass die Leute lachten und ihn fragten, warum er manchmal nicht in der Schule war. Bald konnte er überhaupt nicht mehr zur Schule gehen.

Im Alter von 10 Jahren fiel Max ins Koma.

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Julian & Max

„Ich werde nie vergessen, wie meine Eltern vom Arzt zurückkamen. Ihnen war dort gesagt worden, dass Max SSPE hatte und noch zwei oder drei Wochen zu leben hatte. Es war furchtbar.“

Die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) ist eine seltene Komplikation der Masern, die 7-10 Jahre nach der Infektion mit dem Masernvirus auftritt. Es gibt keine Behandlung, sie verläuft immer tödlich.

Die Familie bereitete sich darauf vor, innerhalb wenigen Wochen ihren Jüngsten zu verlieren. Am Ende dauerte es dann ganze 9 Jahre, bis Max seiner Krankheit erlag. Diese Jahre veränderten das Leben der Familie völlig. Bis kurz vor seinem Tod pflegten sie – unterstützt von Krankenschwestern und Palliativmedizinern – Max zu Hause. Er verstarb im Februar 2014.

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„Als ich 2012 zum Studium nach Berlin zog, war es das erste Mal in meinem Leben, dass ich ihn nicht jeden Tag sehen sollte. Im Februar 2014 bekam ich dann einen Anruf von meinem Vater. Er sagte mir, dass ich besser nach Hause kommen sollte. Max stehe kurz vor seinem Ende.“

Julian beschreibt dies als einen weiteren Tiefpunkt in der langen und schwierigen Krankheit. „Der schockierendste Moment für mich war sicherlich, als ich Max zum ersten Mal nach ein paar Monaten wieder im Hospiz sah. Sein Zustand hatte sich verschlechtert, ihm ging es sehr schlecht. Ich wusste, dass ich meinen Bruder verlieren würde.“

Julian & Max

„Die Beerdigung war wirklich sehr schlimm. Alle haben geweint", erinnert sich Julian. „Aber es fühlte sich auch wie eine Erleichterung an – für die Familie und vor allem für Max. Am Ende hatte er ja wirklich gelitten. Wir hatten zusehen müssen, wie er immer weiter abgebaut hatte“.

Die Jahre, die er im Bett verbrachte, hatten Max zunehmend Schmerzen bereitet. „Gegen Ende kugelte sein linkes Bein durch die Spastiken aus der Hüfte aus. Das machte es uns unmöglich, uns weiter um ihn zu kümmern. Wenn wir ihn nur berührten, weinte er. Das waren wahrscheinlich die schlimmsten Monate für mich. Zuvor schien er in seiner Welt irgendwie zufrieden zu sein, aber von diesem Tag an wünschte ich mir nur, dass er das nicht mehr lange ertragen muss“.

„Manchmal wünschte ich mir sogar, dass er endlich in Frieden ruhen könnte. Ich erinnere mich, wie ich mich fragte, ob es denn moralisch richtig war, den Tod seines Bruders zu wünschen.“

Für Julian fühlte es sich an, als hätte er seinen Bruder schon Jahre vor der Beerdigung verloren. Seine eigenen Teenagerjahre waren durch Max’ Krankheit dramatisch verändert worden.

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Bevor er sein Zuhause verließ, hatte sich Julian über Jahre daran gewöhnt, mit einem Geschwisterkind zusammenzuleben, das eine unheilbare Krankheit hatte. Seine Eltern hatten sich sehr darum bemüht, dass er ein normales Leben führte und ein starkes Netzwerk an Freunden hatte.

„Manchmal fühlte ich mich irgendwie schuldig, weil ich dachte, ich sollte versuchen, ihn mehr in das, was ich tat, einzubinden, weil andere Geschwister immer etwas gemeinsam machten", sagt Julian. „Ich habe manchmal in seinem Bett geschlafen, nur um ihm das Gefühl zu geben, dass ich da bin", sagt Julian.

Julian & Max

In der Zeit nach Max’ Diagnose war Julian besorgt wegen der Anfälle seines Bruders – er bot Schutz und Trost, wo er konnte. „Max war gerade dabei, zu sprechen oder zu spielen. Plötzlich hörte er auf und bekam einen Anfall. Ich musste sofort meine Arme um ihn legen, damit er sich, wenn es vorbei ist, wohl und sicher fühlt. Dadurch schienen die Anfälle kürzer zu werden", sagt Julian.

„Ich weiß noch, dass er mich einmal, als er aus einem Anfall herauskam, sehr fest und sanft hielt. Er war eindeutig außer Atem. Ich werde nie vergessen, wie er sagte: ‚Ich hasse es, ich hasse es einfach‘ – die Krankheit machte ihn unglücklich.“

Als Max nicht mehr laufen konnte, fuhr Julian ihn in seinem Rollstuhl spazieren. Die Brüder hatten immer noch eine Verbindung zueinander: "Wenn er noch in der Lage war, Gefühle zu zeigen, machte ich lustige Geräusche, nur um ihn zum Lachen zu bringen. All das wurde später unmöglich, als er dann intensive Pflege brauchte.“

„Meine Eltern bemühten sich sehr, die Dinge für mich so normal wie möglich zu halten. Aber natürlich hatte sich unser Familienleben grundlegend verändert. Ständig waren Krankenschwestern im Haus, so dass sich der Schwerpunkt von allem verlagerte. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das Leben gewesen wäre, wäre Max nie krank geworden.“

Julian & Max

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Heute ist Julian ein Filmemacher. Mit der Aufgabe betraut, im Rahmen seiner Abschlussarbeit einen kurzen Clip zu erschaffen, beschloss er, sich mit der Geschichte der schmerzlichen Erfahrung seiner Familie mit SSPE auseinanderzusetzen. Zumindest würde daraus ein Video entstehen, das Menschen vielleicht dazu ermutigte, ihre Kinder doch zu impfen. Und es könnte dazu beitragen, einige der schweren Zeiten zu verarbeiten, die Julian und seine Eltern durchlebt hatten.

„Ich wollte mich für meine Thesis darauf konzentrieren und eine Botschaft vermitteln", sagte Julian gegenüber Vaccines Today. „Aber ich unterschätzte den emotionalen Aufwand, den das Projekt erfordern würde.“

Der Film rückt Anke – die Mutter von Julian und Max – in den Mittelpunkt. Unter Verwendung des Familienarchivs mit Fotos und Heimvideos schildert er eine idyllische Kindheit und die Hoffnungen einer Mutter, ihre Kinder gesund heranwachsen zu sehen.

Dann, so wie es die Familie tatsächlich erlebt hat, ändert sich alles. Es fühlt sich an, als ob die Zeit stehen bleibt, während sich die Tonspur verschiebt und die Farbe vom Bildschirm verschwindet. Das Bild von Max verblasst auf einem Familienfoto und spiegelt sein langsames Verschwinden aus ihrem Leben wider.

Es ist Julians Beitrag zu den Bemühungen der Familie, etwas Positives aus einem Alptraum zu ziehen, der ihre Tage fast ein Jahrzehnt lang beherrschte – und der sie immer noch verfolgt. Es fällt einem schwer, nicht daran zu daran zu denken, wie anders die Geschichte hätte verlaufen können.

„Ich erinnere mich noch, dass Max immer Tierarzt werden wollte", sagt Julian. „Ich frage mich immer, wie das Leben heute wäre, wie unsere Beziehung wäre, wenn es ihn noch gäbe. Immer, wenn ich viel darüber nachdenke, werde ich sehr traurig. Wenn ich sehe, wie andere Geschwister Dinge gemeinsam tun, frage ich mich, was Max und ich jetzt tun würden, beides junge Erwachsene – wie es wäre, wenn er in diesem Moment durch die Tür gehen würde", sagt Julian.

Julian & Max

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Nach dem Tod von Max stürzten sich Rüdiger und Anke in die Öffentlichkeitsarbeit. Sie nahmen an Veranstaltungen teil, arbeiteten mit Gesundheitsbehörden zusammen und teilten ihre Erfahrungen. Alles in der Hoffnung, aufzuklären, Bewusstsein zu schärfen und mehr Menschen zum Impfen zu ermutigen.

Es kostete viel Energie und öffnete jedes Mal, wenn die Geschichte neu erzählt wurde, alte Wunden. Daher reduzierten sie ihre Aktivitäten in den letzten Jahren. Jetzt aber, da Julians neuer Film online geht, sieht Rüdiger die Familiengeschichte aus einem neuen Blickwinkel: „Wir haben sie zwar schon viele Male erzählt, im Mittelpunkt standen dabei aber immer wir Eltern. Wer aber denkt dabei an die Geschwister und wie die das erleben?“.

Der Film, der auf Deutsch und Englisch erhältlich ist, öffnet ein kleines Fenster zu den Qualen und dem Elend, das Masern über eine Familie bringen kann. Julian hofft, dass er die Sicht der Öffentlichkeit auf die Krankheit damit verändern kann. „Die Leute denken, Masern seien nur eine einfache Kinderkrankheit. Vielleicht wird diese Geschichte das ein bisschen verändern. Vielleicht wird sie sogar die Meinung einiger Menschen ändern, die der Notwendigkeit einer Impfung noch immer skeptisch gegenüberstehen.“

Der Vater von Max und Julian, Rüdiger, schrieb 2012 einen Artikel über die Erfahrungen der Familie. Er ist nach wie vor der meistgelesene Artikel auf Vaccines Today seit dem Start der Website im Jahr 2011.

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